Liebe Leserin, lieber Leser
Die Moralapostel sind mittlerweile überall. «Tue Gutes und sprich darüber» gehört auch beim Investieren inzwischen zum guten Ton. Verkauft wird es unter dem Label «ESG», was auf Deutsch für Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung steht.
Kein Unternehmen, kein CEO – pardon: keine CEO, man ist ja schliesslich auf Diversity bedacht – lässt sich die Chance entgegen, darauf hinzuweisen, wie sie die Welt tagtäglich ein Stück besser machen. Hüben wie drüben produzieren alle weniger Abfall, stellen noch nachhaltigere Produkte her und verfolgen eine total inklusive Personalpolitik. Friede, Freude, Eierkuchen.
Ölgesellschaften werden plötzlich grün, Zementkonzerne bauen ökologisch, Tabakfirmen verkaufen gesunde Zigaretten und sogar Waffenhersteller sollen nachhaltig sein. Sie haben richtig gelesen: Wegen des Ukraine-Krieges wurde tatsächlich diskutiert, ob gewisse Waffenhersteller nicht doch ESG-konform seien. Schon vor Kriegsausbruch hat die EU-Kommission überraschend die Nuklearenergie und Erdgas als nachhaltig eingestuft – exakt jene Energieträger, die zuvor verteufelt wurden. Im Zweifel sitzen eben auch die Bürokraten in Brüssel lieber in einer wohlig geheizten Stube.
Die jüngsten Skandale fördern das Vertrauen ins tugendhafte Anlegen auch nicht gerade. Soeben musste der Chef des deutschen Fondshauses DWS (einer der weltweit führenden Vermögensverwalter) den Hut nehmen, weil seine Firma im Verdacht steht, Anlagefonds als grüner zu verkaufen als sie tatsächlich sind. Der Ausschluss von Tesla aus dem S&P 500 ESG Index wegen einer «fehlenden kohlenstoffarmen Strategie» und schlechten Arbeitsbedingungen warf ebenfalls Wellen. Komischerweise sind der nicht gerade kohlenstoffarme Ölkonzern ExxonMobil und Amazon, wahrlich kein Leuchtturm für vorbildliche Arbeitsbedingungen, weiterhin im Index enthalten.
Dazu passt, dass sich die verschiedenen ESG-Ratingagenturen zum Teil diametral widersprechen: Ein Unternehmen kann bei einem Anbieter glänzend abschneiden und beim nächsten ein schlechtes Rating erhalten. Da wird offensichtlich viel Schindluder betrieben. Kein Wunder, denn manche Leute verdienen gutes Geld mit dem schlechten Gewissen der Anleger. Mal kurz einem Fonds den ESG-Stempel aufdrücken und schon lassen sich die Gebühren kräftig erhöhen.
Wenn es wenigstens der Umwelt helfen würde. Leider werden die dreckigen Aktivitäten nur verschoben. Wenn etwa der Ölmulti BP gewisse Projekte an ein Private-Equity-Haus verhökert, steht BP zwar grüner da, die Förderung geht halt einfach abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit weiter – und nicht selten unter schmutzigeren Bedingungen als zuvor.
Auch die vermeintlich tolle Performance der ESG-Fonds darf angezweifelt werden. Sie haben in den vergangenen Jahren primär vom Bullenmarkt der Technologie- und der Baisse bei Energieaktien profitiert. Seit Jahresanfang haussieren «dreckige» Sektoren – und prompt geraten ESG-Fonds ins Hintertreffen. Je länger die Underperformance anhält, desto grösser der Schmerz.
Wetten, dass schon schon bald viele tugendhafte Anleger klammheimlich die eine oder andere Ölaktie ins Depot aufnehmen werden? Das können sie bedenkenlos tun, für die Umwelt ändert sich dadurch nämlich herzlich wenig. Die höhere Rendite können sie dann immer noch für einen guten Zweck spenden.
In diesem Sinne: Ãœbertreiben Sie es nicht mit der Tugendhaftigkeit!
Ihr Mark Stock©
Mark Stock ist ein Mitglied der Point Capital-Redaktion. «Ich bin begeisterter Börsianer und befasse mich leidenschaftlich gerne mit Wirtschaftsgeschichte. Seit Jahren verfolge ich das Auf und Ab an den Märkten und investiere natürlich auch selber – bevorzugt in Aktien. Mein Name ist also Programm. Jeden Monat greife ich an dieser Stelle ein aus meiner Sicht spannendes Thema auf. Und da der Inhalt und nicht meine Person im Zentrum stehen soll, schreibe ich unter einem Pseudonym.»